Die neue S2k-Leitlinie: Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter
Fachlich geprüft von
Inês Lopes

In der psychotherapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen gewinnt das Thema „Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter“ zunehmend an Bedeutung – nicht zuletzt aufgrund steigender Inanspruchnahme entsprechender Versorgungsangebote und gesellschaftlicher Entwicklungen. Als Fachpersonen stellt sich dabei die Frage: Wie lässt sich belastbar diagnostizieren und behandeln? Vor diesem Hintergrund ist die neue S2k‑Leitlinie Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes‑ und Jugendalter – Diagnostik und Behandlung (AWMF Register-Nr. 028-014) („Leitlinie“) für die psychotherapeutische Praxis ein wichtiger Orientierungspunkt, da sie erstmals systematisch Rahmenbedingungen für Diagnostik, Therapie und interdisziplinäre Versorgung in diesem Bereich formuliert.
Im folgenden Überblick werden zentrale Aspekte der Leitlinie aufgearbeitet – mit Fokus auf Diagnostik, Indikationsstellung und vernetzter Behandlung – und für die psychotherapeutische Arbeit reflektiert. Ziel ist es, Fachpersonen einen kompakten Einstieg in den aktuellen Standard zu bieten und praxisrelevante Implikationen herauszuarbeiten.
Hintergrund und Bedeutung
Die Leitlinie wurde federführend von der Deutsche Gesellschaft für Kinder‑ und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) erstellt und stellt eine Neufassung der Versorgungsstandards für Kinder und Jugendliche mit Geschlechtsinkongruenz bzw. Geschlechtsdysphorie dar (AWMF, 2025). Ihr Erscheinen markiert einen fachlichen Meilenstein: Die Leitlinie definiert geschlechtliche Identität, dysphorische Erlebnislagen sowie Interventionen nicht länger primär im Pathologiekontext, sondern im Rahmen von Gesundheits-, Entwicklungs- und Teilhabeaspekten. So heißt es: Ziel sei ein „fachgerechter Zugang von Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsinkongruenz und/oder Geschlechtsdysphorie zu einer bestmöglich qualitätsgesicherten Versorgung“ unter ethischer Orientierung (Selbstbestimmung, Würde, Nicht-Schaden; AWMF, 2025).
Für die psychotherapeutische Praxis ist dies bedeutsam: Es geht nicht allein um Diagnosestellung und etwaige körperliche Maßnahmen, sondern um umfassende Begleitung – psychologisch, psychosozial und interdisziplinär. Besonders im Kindes- und Jugendalter ist die Entwicklungsdynamik (Pubertät, Identitätsfindung, Familie, soziale Umwelt) zentral.
Begriffliche Klärungen
Gemäß der Leitlinie wird zwischen folgenden Begriffen differenziert: „Geschlechtsinkongruenz“ und „Geschlechtsdysphorie“. Während Geschlechtsinkongruenz eine Diskrepanz zwischen dem bei Geburt zugewiesenen Geschlecht und der subjektiv erlebten Geschlechtsidentität beschreibt, impliziert Geschlechtsdysphorie zusätzlich Leiden oder bedeutsame Beeinträchtigungen. Bezogen auf Diagnostik heißt das: Eine subjektiv empfundene Diskrepanz allein genügt nicht zwingend einer psychotherapeutischen oder medizinischen Intervention – es muss zusätzlich eine Belastung oder funktionale Beeinträchtigung gegeben sein. Diese Unterscheidung unterstützt Therapeut:innen dabei, eine differenzierte Einschätzung vorzunehmen, ohne automatisch pathologisierend vorzugehen.
Diagnostik – Struktur, Prozess, Inhalte
Die Leitlinie legt Wert auf qualitätsgesicherte Diagnostikprozesse (AWMF, 2025). Im Zentrum stehen folgende Schlüsselelemente:
a) Qualifikations- und Strukturvorgaben
Die Leitlinie definiert Mindestanforderungen an Fachpersonen und Teams, die mit Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsinkongruenz bzw. -dysphorie arbeiten. So sollen Fachleute in Kinder- und Jugendpsychiatrie, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie oder vergleichbarer Qualifikation involviert sein, zusammen mit Endokrinolog:innen, Ärzt:innen, psychosozialen Fachkräften und ggf. rechtlich/ethisch versierten Personen (AWMF, 2025).
Für Therapeut:innen bedeutet das: Es ist ratsam, sich über die Versorgungsstruktur und Kooperationspartnerinnen zu informieren, um frühzeitig vernetzt zu arbeiten.
b) Diagnoseprozess
Der Prozess beginnt mit einer ausführlichen Anamnese: Erfragt werden sollten die Entwicklung der Geschlechtsidentität, der Zeitpunkt und Verlauf der wahrgenommenen Inkongruenz, Pubertätsstatus, psychosoziale Belastungen, Begleit- oder Komorbiddiagnosen (z. B. Depressionen, Angststörungen, Autismus-Spektrum). Die Leitlinie betont, dass neben der geschlechtlichen Identität auch das gesamte biopsychosoziale Kontextfeld berücksichtigt werden muss (AWMF, 2025). Weiterhin werden psychische Belastungen, Suizidalität, Selbstverletzendes Verhalten und Lebensqualität systematisch erhoben. Das Erkennen von Komorbiditäten ist von hoher Bedeutung, weil sie den Verlauf und die Indikationsstellung beeinflussen.
c) Indikation zur weiteren Behandlung
Im Diagnoseschritt wird geprüft, ob eine weiterführende Maßnahme (z. B. psychosoziale Begleitung, medizinische Intervention) indiziert ist. Die Leitlinie macht klar: Es ist nicht jede Geschlechtsinkongruenz automatisch behandlungsbedürftig – vielmehr gilt es, individuelle Bedürfnisse, Belastung und Wunschlage zu erheben (AWMF, 2025). Für Psychotherapeut:innen heißt das: Eine sorgfältige Exploration von Gedanken, Gefühlen und Bedürfnissen sowie deren Veränderung im Zeitverlauf ist zentral. Eine pauschale Diagnosestellung ohne Kontext- und Verlaufsbezug ist zu vermeiden.
Behandlungsempfehlungen – Psychotherapie und Interdisziplinarität
Die Leitlinie gibt Empfehlungen zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Geschlechtsinkongruenz bzw. -dysphorie, wobei sie betont, dass die Evidenzlage nach wie vor begrenzt ist und viele Aussagen auf Expertenkonsens beruhen (AWMF, 2025). Für die psychotherapeutische Praxis lassen sich folgende zentrale Hinweise ableiten:
a) Psychosoziale und psychotherapeutische Begleitung
Die Leitlinie empfiehlt kontinuierliche psychosoziale Unterstützung als integralen Bestandteil der Versorgung. Therapeut:innen übernehmen dabei eine wichtige Rolle: Sie begleiten junge Menschen beim Identitäts- und Rollenfindungsprozess, reflektieren das Erleben von Geschlechtsinkongruenz, unterstützen bei psychosozialen Stressfaktoren und Themen wie Ausgrenzung, Angst, Depression oder Selbstverletzung (AWMF, 2025). Wesentlich ist eine klient:innenzentrierte, wertschätzende Haltung: Die Leitlinie verweist bei ihren ethischen Prinzipien auf Respekt vor der Würde und Selbstbestimmung der Person (AWMF, 2025).
b) Interdisziplinäre Kooperation
Behandlungen bei diesem Klientel sind nicht allein psychotherapeutisch zu denken, sondern erfordern Kooperation mit Kinder- und Jugendlichenpsychiatrie, Endokrinologie, Sozialarbeit, Schule und ggf. Jugendhilfe. Die Leitlinie benennt Strukturbedingungen, über die die Versorgung stattfinden soll (AWMF, 2025). Therapeut:innen sollten sich selbst über Partner:innen informieren und im Netzwerk versorgt sein.
c) Körpermodifizierende medizinische Interventionen
Die Leitlinie regelt auch Körpermodifikationen (z. B. Pubertätsblockade, Hormone) bei Jugendlichen – allerdings sehr restriktiv und mit zahlreichen Indikationskriterien. In der Praxis heißt das: Psychotherapeut:innen sollten sich der möglichen ärztlichen Interventionen bewusst sein, deren Planung begleiten, psychosoziale Aspekte einbringen und die Wünsche junger Menschen sowie ihre psychosoziale Stabilität reflektieren. Eine enge Abstimmung mit ärztlichen Kolleg:innen ist angezeigt.
Kritische Aspekte und Implikationen für die Praxis
Die Leitlinie ist in Fachkreisen nicht unumstritten: So wird kritisiert, dass die Evidenzlage zur Wirkung körperlicher Maßnahmen bei Minderjährigen noch schwach ist. Für Psychotherapeut:innen bedeutet dies:
- Eine ausgeprägte Reflexions- und Dokumentationspflicht: Es gilt, sorgfältig zu prüfen, wann Interventionen indiziert sind, und Transparenz im interdisziplinären Prozess herzustellen.
- Bedeutung von Verlaufsbeobachtung: Da sich Identitäts- und Entwicklungsprozesse verändern können, ist keine statische Diagnosestellung ausreichend. Die Leitlinie fordert eine dynamische Perspektive.
- Fokus auf Ressourcen, Lebensqualität und Resilienz: Psychotherapeutische Begleitung sollte nicht allein auf Körperlichkeit oder Transition ausgerichtet sein, sondern auch Unterstützung bei sozialer Teilhabe, psychischer Stabilität und persönlichem Wachstum leisten.
- Achtsamkeit für System- und Kontextfaktoren: Familiäre Unterstützung, Schule, Peer-Beziehungen, gesellschaftliche Anerkennung – all dies beeinflusst den Verlauf und die Therapieplanung.
Bedeutung für Psychotherapeut:innen – praxisrelevante Hinweise
Für psychotherapeutisch Tätige lassen sich folgende praxisnahe Hinweise ableiten:
- Frühzeitige Einbindung der psychosozialen Perspektive: Bereits im Diagnoseschritt sollten psychosoziale Faktoren systematisch erhoben werden (z. B. Familiensituation, Peer-Beziehungen, Belastungen).
- Aufbau vertrauensvoller therapeutischer Beziehung: Themen wie Geschlechtsidentität, Dysphorie, Genderfragen verlangen eine sensitive Haltung, Offenheit, nicht-pathologisierende Sprache und Reflexion eigener Haltungen.
- Klärung von Wünschen und Perspektiven: Zentral ist eine Exploration darüber, wie das Kind bzw. die Jugendliche das eigene Geschlecht erlebt, welchen Wunsch nach Veränderung es gibt, wie dieser sich entwickelt hat – ohne automatischen Übergang in medizinische Maßnahmen.
- Langfristige Begleitung und Monitoring: Veränderungen im Identitätsprozess, im sozialen Umfeld und im Gesundheitsstatus verlangen eine dynamische Therapieplanung; Therapeut:innen sollten Rückmeldungen sammeln, Übergänge koordinieren und mit ärztlichen Partner:innen kooperieren.
- Dokumentation und Qualitätssicherung: Die Leitlinie fordert qualitätsgesicherte Prozesse und Mindeststandards. Therapeut:innen sollten dies in Supervision, Team-Meetings oder Kooperation mit anderen Fachdisziplinen berücksichtigen.
Abschluss
Die S2k-Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter – Diagnostik und Behandlung“ bietet Psychotherapeut:innen eine wichtige Orientierung für die Begleitung junger Menschen mit geschlechtlichen Vielfaltserfahrungen. Sie betont eine ethisch fundierte, interdisziplinäre und entwicklungsorientierte Herangehensweise, in der Diagnostik, psychosoziale Begleitung und – sofern indiziert – medizinische Interventionen in einem strukturierten Versorgungsprozess integriert sind. Gleichzeitig bleibt die Evidenzlage begrenzt, was die Rolle der Therapeut:innen besonders relevant macht: als Begleitende, Reflektierende und Vernetzende. Die Versorgungsrealität verlangt heute mehr denn je eine fachlich kompetente, sensitive und wertschätzende Haltung gegenüber geschlechtlich vielfältigen jungen Menschen. Mit Hilfe der Leitlinie können Therapeut:innen ihre Arbeit strukturieren, kritisch reflektieren und gemeinsam mit Kindern, Jugendlichen, Familien und interdisziplinären Partner:innen auf eine bestmögliche Versorgung hinarbeiten.
In der Praxis heißt das: Diagnostik nicht mechanisch anwenden, Therapie nicht hastig ansetzen, sondern Entwicklungsprozesse begleiten, Ressourcen fördern und psychosoziale Stabilität in den Mittelpunkt rücken. So lässt sich eine professionelle Begleitung leisten, die den individuellen Bedürfnissen junger Menschen gerecht wird – und die Leitlinie dabei als hilfreiche Fachorientierung nutzt.
Hinweis: Für den genauen Wortlaut, die vollständigen Indikations- und Prozesskriterien empfiehlt sich ein Blick in die Originalfassung der Leitlinie im AWMF-Leitlinienregister: AWMF Leitlinienregister+1
Quelle
Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF). (2025). S2k-Leitlinie Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter – Diagnostik und Behandlung (AWMF-Register-Nr. 028-014). Verfügbar unter: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/028-014

